Über den Fachkräftemangel klagen, aber keine Sekunde von der Vollzeit-Arbeitswoche abrücken? So funktioniert das nicht mehr, meint Alice Greschkow: Wer Angebote für eine bessere Work-Life-Balance macht, kann ganz neue Potenziale erschließen und Zugang zu qualifizierten Gruppen eröffnen, meint sie. Man muss es nur wollen!

Die Hälfte der mittelständischen Unternehmen planen keine Strategie für die Work-Life-Balance – dies zeigen aktuelle Daten des ETL-Mittelstandskompasses. Dabei kann genau an dieser Stellschraube eine Lösung für den Fachkräftemangel liegen. Unternehmen und Politik müssen endlich neu darüber nachdenken!

Digitalisierung läuft – doch die Work-Life-Balance steht im Hintergrund

Der kürzlich erschienene Mittelstandskompass, den die Steuerberatungsgruppe ETL in Kooperation mit dem Institut für deutsche Wirtschaft (IW Köln) entwickelt hat, zeigt einen spannenden Blick in kleine und mittlere Unternehmen.

Deutlich wird: Der Fachkräftemangel ist angekommen. In keiner Branche sehen die Unternehmen eine entspannte Arbeitsmarktlage, insbesondere im IT-Bereich und in Bauberufen, aber auch im Marketing werden Fachkräfte gesucht. 45 Prozent der befragten Unternehmen geben an, Fachkräfte mit einer zwei- bis dreijährigen Berufsausbildung zu suchen, ein Drittel sucht Spezialist/innen auf Meister- oder (Fach-)Hochschulniveau.

Im Rahmen der Untersuchung wurden Unternehmen auch gefragt, wie sie mit den großen Megatrends Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Personalarbeit/Fachkräfte, Work-Life-Balance und Mitarbeitendenqualifizierung umgehen. Auffällig ist, dass die Digitalisierung einen hohen Stellenwert hat: Über die Hälfte der Unternehmen haben eine formelle oder informelle Strategie umgesetzt. Anders sieht es im Bereich Work-Life-Balance aus: Jeder zweite Mittelständler gibt an, keine Strategie dafür zu planen.

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Wer den Fachkräftemangel meistern will, muss alle Ressourcen nutzen

Angesichts der Tatsache, dass der Fachkräftemangel ein dringendes Thema in den mittelständischen Unternehmen ist, überrascht es mich, dass Work-Life-Balance eine so untergeordnete Rolle spielt. Darin könnte nämlich der Schlüssel liegen, ungenutzte Potenziale zu nutzen: Menschen, die Sorgearbeit leisten, sowie ältere Beschäftige suchen oft nach Arbeitsmodellen, die flexibler als das klassische Vollzeitmodell sind.

Ältere Fachkräfte werden oft übersehen, obwohl sie über jahrzehntelange Erfahrung verfügen. Eine Studie aus 2021 zeigt, dass viele von ihnen arbeiten möchten, jedoch aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen kürzer treten möchten. Auch Mütter und Menschen, die Angehörige pflegen, suchen häufiger nach flexiblen Beschäftigungsmöglichkeiten. Diese Gruppen haben allesamt schlechtere Karten auf dem Arbeitsmarkt, obwohl sie einen klaren Mehrwert für Arbeitgebende liefern können.

Es scheint, als müssten sowohl Unternehmen als auch die Gesetzgebung an diesem Thema arbeiten. Ein Mentalitätswechsel ist notwendig, dass Work-Life-Balance und Zeitautonomie sehr viel mehr als moderne „Luxusthemen“ sind – sie sind eine Notwendigkeit für Millionen von Menschen. Wer qualifizierte Fachkräfte sucht, muss sich von dem Vollzeitideal lösen und bestehende Potenziale nutzen.

Das alte Ideal der Vollzeitstelle endlich loslassen

An dieser Stelle würde es sich lohnen, wenn die Gesetzgebung die Debatte für realistische Alternativen öffnet. Ist es noch zeitgemäß, dass Vollzeitarbeit zwischen 37,5 und 40 Wochenstunden haben muss? Gibt es Möglichkeiten, wie das Arbeitszeitgesetz modernisiert werden kann, um sowohl Flexibilität als auch Arbeitsschutz zu geben?

Es handelt sich dabei um schwierige Debatten, da der deutsche Arbeitsmarkt sehr heterogen ist und verschiedene Berufsgruppen individuelle Bedürfnisse haben. Doch es gibt keine Zeit mehr zu verlieren – der demografische Wandel wird den Fachkräftemangel in diesem Jahrzehnt zunehmend verstärken. Um mit dieser Tatsache angemessen umzugehen, kann es wohl nötig sein, das alte Ideal von der Vollzeitstelle loszulassen.

Alice Greschkow (Bild: Promo)

Alice Greschkow (Bild: Promo)

Alice Greschkow ist Politikwissenschaftlerin mit Leidenschaft für New Work. Sie lebt und arbeitet seit 2015 in Berlin und verbindet beruflich politische und wirtschaftliche Themen.

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