Sicherheitskultur ist mehr als ein System von Regeln. Vielmehr gibt sie Auskunft über die Kultur in einem Unternehmen, meint unsere Gastautorin Clara Röder – und eignet sich auch als kraftvoller Hebel für Veränderung.

Stellen sie sich vor, es wurde Kaffee im Flur verschüttet. Keiner fühlt sich zuständig. Schließlich rutscht eine Mitarbeiterin aus, fällt unglücklich, bricht sich die Schulter und fällt für mehrere Wochen aus. Vielleicht war die Mitarbeiterin auf ihrem Weg auch noch mit ihrem Handy beschäftigt, das wäre denkbar, ändert aber grundsätzlich nichts. Ein Arbeitsunfall ist passiert und wir fragen uns, warum und was tun, damit es nicht wieder passiert. Der erste Impuls: Eine Regel und ein Schild „Kaffee muss immer aufgewischt werden!“, oder „Kaffee darf nur in der Küche getrunken werden“. Nur: Können und wollen wir alles bis ins letzte Detail regeln? Wäre es nicht viel einfacher, wenn jede/r Mitarbeiter/in einfach auf sich und die anderen acht geben würde, auch wenn dies manchmal einen Umweg bedeutet?

Mit diesem Wunsch verlassen wir den Bereich der technischen Arbeitssicherheit und befassen uns mit der Sicherheitskultur unseres Unternehmens.

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Sicherheitskultur ist eher Gewohnheit als Regeln

Wenn wir über Sicherheitskultur reden, geht es darum, ob wir mit einem System von strengen Regeln für Sicherheit sorgen oder ob es jedem einzelnen Mitarbeitenden zur Gewohnheit wird, sicher und gesundheitsbewusst zu handeln. Bei einer gelebten Sicherheitskultur wird sicheres Verhalten so selbstverständlich wie das morgendliche Zähneputzen oder der Griff zum Sicherheitsgurt im Auto.

Die deutsche gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) definiert eine Kultur der Prävention sinngemäß so: Sie umfasst alle Werte, Einstellungen, Verhaltensweisen, Aktivitäten und Maßnahmen, die dazu beitragen, dass Arbeitsunfälle vermieden werden und die Mitarbeitenden körperlich und seelisch gesund bleiben. Insbesondere geht es um das Verhalten jedes Einzelnen. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Informiert die erste Person, die den Kaffee auf dem Boden sieht, direkt den Putzdienst? Oder nimmt sie kurzerhand einen Lappen und wischt schnell selbst auf? Oder ist es bereits selbstverständlich, dass der- oder diejenige, der oder die den Kaffee verschüttet hat, diesen aufwischt? Wie reagieren die anderen Mitarbeitenden? Und wie die Chefs? Der Kaffeefleck im Büro gleicht dabei dem ausgelaufenen Joghurtbecher auf dem Boden im Supermarkt, dem Ölfleck in der Werkstatt und der kaputten Palette als Stolperfalle im Lager.

Den größten Einfluss auf die Sicherheitskultur haben die Führungskräfte: Ist der Führungsstil autoritär oder partnerschaftlich? Wie konstruktiv ist die Kommunikation im Unternehmen? Wie läuft der Umgang mit Fehlern? Wird die Belegschaft in Entscheidungen einbezogen und besteht ein unterstützendes soziales Klima? Hier befinden wir uns mitten im Herzen eines Unternehmens, dort, wo auch die Betrachtung der Arbeitssicherheit hingehört. Kümmert sich jede/r um Arbeitssicherheit, sind sich die Vorgesetzten ihrer Verantwortung und Rolle bewusst? Oder scheinen auch die Mitarbeitenden die Verantwortung für ihre eigene Sicherheit am Werkstor abzugeben und wird für Arbeitssicherheit lediglich die Fachkraft für Arbeitssicherheit zuständig gemacht, die sporadisch auftaucht und etwas Kosmetik betreibt?

Hinter jedem Arbeitsunfall steckt ein persönliches Schicksal

In Sachen Sicherheit hat sich vieles getan in Deutschland. Durch gesetzliche Regelungen, Fortschritte in der Sicherheitstechnik und Maschinenausstattung, persönliche Schutzausrüstungen für jeden Zweck und jede Situation konnten in der Vergangenheit schnell gute Fortschritte erzielt werden. Die Zahl der Arbeitsunfälle hat sich so in den letzten 20 Jahren beinahe halbiert: 1997 gab es noch 1,5 Millionen meldepflichtige Unfälle im Jahr (dazu zählen Unfälle mit drei und mehr Ausfalltagen), 2017 waren es noch 870.000. Dennoch ist diese Zahl noch sehr hoch, 450 Unfälle davon gehen sogar tödlich aus. Vor allem scheint die positive Entwicklung derzeit deutlich langsamer zu gehen. Zwischen 1997 und 2007 sank die Zahl der Arbeitsunfälle um 500.000, zwischen 2007 und 2017 lediglich um etwas mehr als 100.000. Können wir uns damit zufriedengeben? Nein, jeder Arbeitsunfall ist einer zu viel, weil vermeidbar. Hinter jedem Unfall steckt ein persönliches Schicksal mit mehr oder weniger gravierenden Auswirkungen, ebenso wie Ausfallzeiten und wartenden Kunden. 

Dennoch kommen wir mit den bisherigen Ansätzen anscheinend nicht wirklich weiter. Verschiedene Studien belegen, dass die Ursachen von Arbeitsunfällen heutzutage fast immer im Verhalten der Mitarbeitenden liegen. Dazu zählen der Kaffee, der Ölfleck und die kaputte Palette genauso wie der Einsatz von falschem oder defektem Werkzeug, das Missachten von Sicherheitsregeln, fehlende Absprachen und fehlende Aufmerksamkeit. Wenn Arbeitsabläufe nicht passen, werden die Mitarbeitenden kreativ und nehmen dabei bewusst oder unbewusst Risiken in Kauf. In Sicherheitsunterweisungen haben die meisten gehört, wie sie ihre Aufgabe sicher erledigen können. Doch Wissen allein scheint nicht auszureichen, das Verhalten tatsächlich zu verändern. Was bringt die Mitarbeitenden dazu, es auch tatsächlich zu tun? Die Lösung liegt im Aufbau einer Sicherheitskultur, die es bei allen Mitarbeitenden zur Gewohnheit macht, sicher zu arbeiten, d.h. zu arbeiten, ohne sich selbst und andere zu gefährden.

Wer Fehler sanktioniert, provoziert sie

Das Wichtigste vorab: Der Schlüssel zu verändertem Verhalten liegt in positiver Verstärkung, nicht im Sanktionieren von Fehlern. Unser aller Arbeitsalltag ist von unzähligen kleinen Entscheidungen geprägt, oft zwischen sicher/etwas aufwändiger und unsicher/vermeintlich einfacher. Mitarbeitende ändern ihr Verhalten dann, wenn sie Lob für sichere Arbeitsweisen bekommen, wenn sie sich an Vorbildern orientieren können, oder auch, wenn sie klassisch eine Tätigkeit 1.000 Mal durchführen, bis diese Routine ist. Ebenfalls ausbilden lässt sich die individuelle Risikowahrnehmung: 50 Prozent der Unfälle passieren, weil wir das Risiko schlicht unterschätzt haben.

Hier helfen technische Lösungen nicht weiter und es wird klar, dass für die Änderung der Sicherheitskultur auch ein ganzes Unternehmen aktiv werden muss, allen voran die oberste Leitung, die die Richtung vorgibt. Auch der Gesetzgeber unterstützt die Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes über die klassischen technischen Fragestellungen hinaus. Seit 2013 wird explizit eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen gefordert. Auch dabei werden Aspekte beleuchtet, die das Verhalten der Mitarbeitenden beeinflussen, wenn mit Eile, Stress oder Hektik gearbeitet wird.

Wer wissen möchte, wie es um die Sicherheitskultur im Unternehmen bestellt ist, sollte die wichtigsten Führungskräfte zusammenbringen und dies gemeinsam erörtern. Mit vorgegebenen Themen und Fragebögen kann man zu einer gemeinsamen Einschätzung kommen. Fachkräfte für Arbeitssicherheit sind die Experten, die hier mit Rat und Tat zur Seite stehen können.

Wer Zahlen braucht, sollte sich anschauen, wie viele Beinahe-Unfälle in Ihrem Unternehmen berichtet werden. Dies ist ein direktes Maß für eine Kultur, in der auch kleinere Fehler wahrgenommen, gemeldet und abgestellt werden. Anstatt sich lediglich zu freuen, dass es nochmal gut gegangen ist, werden hier Mitarbeitende aktiv, benennen ein Problem und ermöglichen so eine wirksame Lösung.

Echte Sicherheitskultur bringt viele positive Effekte

Unternehmen, die ihre Sicherheitskultur verbessern, profitieren in vielfacher Hinsicht. Studien belegen, dass sich jeder Euro, der in Arbeitssicherheit gesteckt wird, doppelt zurückzahlt, vor allem durch Einsparung von unfallbedingten Krankheitstagen. Sichere Abläufe und Prozesse führen zu qualitativ hochwertigen Produkten genau wie eine Maschine, die gut gewartet ist, nicht kurzfristig und risikoreich von Hand repariert werden muss. Mitarbeitende, die sich an ihrem Arbeitsplatz sicher fühlen und deren Gesundheit aktiv wertgeschätzt wird, sind produktiver und loyaler, was sich im Rennen um die besten Köpfe zusätzlich auszahlt. 

Die Mitarbeitenden profitieren wiederum bis ins private Umfeld. Da die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem mehr und mehr aufweichen, nehmen wir Gedanken und Ideen mit nach Hause und bringen auch welche von dort mit ins Unternehmen. Wenn wir in der Firma über Routine und Einsicht verinnerlicht haben, nur mit Schutzbrille mit einer Kettensäge zu arbeiten, werden wir auch zuhause beim Hecke schneiden eine Schutzbrille verwenden. Dieser Blick auf die Sicherheit zu Hause führt wiederum zu mehr Sicherheit im Unternehmen.

Eine gute Sicherheitskultur führt dazu, dass Arbeitssicherheit nicht mehr als lästig und notwendig, sondern als hilfreich und unterstützend wahrgenommen wird. Daran arbeiten wir als Fachkräfte für Arbeitssicherheit und brauchen dazu die Unterstützung aller Kollegen und Führungskräfte im Unternehmen. Packen wir’s an!

Clara Röder (Bild: Barbara Klein | Unternehmerbilder.de)

Clara Röder (Bild: Barbara Klein | Unternehmerbilder.de)

Clara Röder liegt die Arbeitssicherheit und Gesundheit von Mitarbeitern sehr am Herzen. Sie ist selbständig und hilft Betrieben, ihre Sicherheitskultur voranzubringen, indem sie die dort tätigen Fachkräfte für Arbeitssicherheit mit kollegialer Beratung, 1:1 Coaching oder Übernahme spezieller Projekte (wie z.B. Workshops zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen) unterstützt. Damit erreichen sie schneller, effizienter und entspannter ihr Ziel. Bei all dem kann sie auf mehr als 10 Jahre Berufserfahrung als leitende Fachkraft für Arbeitssicherheit, Beraterin und Auditorin zurückgreifen.