Zum ersten Mal diskutierten wir ein Recht auf Nichterreichbarkeit bereits um die Jahrtausendwende zu Zeiten der Dotcom-Blase. Im Zuge der Corona-Krise landete das Thema nun wieder in der öffentlichen Wahrnehmung. Wie könnte ein deutscher Umgang mit dem Thema aussehen?, fragt die Politikwissenschaftlerin Alice Greschkow in ihrer Kolumne.

Das Recht auf Nichterreichbarkeit ist politisch kein neues Thema – auch nicht in Deutschland. Doch während manche Staaten bereits mit Verordnungen und Gesetzesänderungen vorpreschen, diskutieren politische Akteure hierzulande noch miteinander – und dies ist tatsächlich auch notwendig.

Mit der Dotcom-Blase und der Verbreitung von Handys kam das Thema bereits um die Jahrtausendwende zum ersten Mal auf. Damals wurde diskutiert, ob mobiles Arbeiten zum Trend werden und welche Implikationen es für die Arbeitnehmerrechte haben könnte. Frankreich verankerte bereits 2001 gesetzlich, dass Beschäftigte nicht verpflichtet seien, von zu Hause zu arbeiten oder Akten mit nach Hause zu nehmen.

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2004 entschied ein französisches Gericht zudem, dass es sich um kein sanktionierbares Fehlverhalten handle, wenn Arbeitnehmer/innen nach Dienstschluss nicht ans Handy gehen. 2016 wurde dann tatsächlich auch ein Recht auf Nichterreichbarkeit in unserem Nachbarland implementiert, da eine Studie offenlegte, dass zwei Drittel der Beschäftigten auf Mails und digitale Dokumente nach Feierabend zugreifen und sich aber gleichzeitig mehr Schutz wünschen.

Einige Länder haben bereits reagiert

In den meisten europäischen Staaten gab es politisch verhältnismäßig wenig regulierende Mechanismen. Erst durch die Corona-Krise kam das Thema Nichterreichbarkeit wieder stärker auf die Agenda. Das EU-Parlament hat im Januar 2021 eine sogenannte Entschließung an die EU-Kommission mit der Aufforderung gerichtet, einen Gesetzesvorschlag für Nichterreichbarkeit vorzulegen.

Auf diese Stimmung haben andere Länder bereits reagiert: Die Slowakei hat im Februar eine Erweiterung des Arbeitsrechts beschlossen, die de facto ein Recht auf Unerreichbarkeit verankert. Und in Irland haben Gewerkschaften eine entsprechende Rechtsverordnung erzielt, welche seit April gültig ist.

Und Deutschland? Auch hier ist das Recht auf Nichterreichbarkeit und der Beschäftigtenschutz nicht neu. Bereits vor zehn Jahren haben Konzerne wie Volkswagen, Henkel, Allianz oder Daimler ohne regulatorische Rahmen von sich aus agiert: Sie implementierten Lösungen, die Beschäftigte vor zu viel Stress nach Feierabend schützen sollten. Und die ehemalige Arbeitsministerin Andrea Nahles hatte 2014 eine „Anti-Stress-Verordnung“ ins Spiel gebracht, die Dauererreichbarkeit unterbinden sollte.

Während der Corona-Krise haben alle Parteien Stellung zum mobilen Arbeiten bezogen. Im Bundestagsausschuss Arbeit und Soziales wurden Anträge der FDP, Grünen und Linke diskutiert. Besonders interessant sind dabei die schriftlichen Stellungnahmen der Interessensvertretungen: Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) lehnt ein Recht auf Nichterreichbarkeit unter anderem mit dem Argument ab, da es sowieso keine gesetzliche Pflicht auf Erreichbarkeit nach Feierabend gäbe. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) merkt an, dass es zwar keine Pflicht für Erreichbarkeit gäbe, allerdings der Beschäftigtenschutz in der Praxis immer schwieriger durchzusetzen sei. Zudem sei es nötig, die Erfahrungen aus der Corona-Krise neu zu bewerten, denn erst jetzt seien Millionen von Menschen erstmals mit mobilem Arbeiten in Berührung gekommen.

Die Mehrbelastung anerkennen

Und dieser Punkt ist essenziell: Politische Vorhaben müssen sich an der Realität orientieren und einerseits die Forderung nach mehr Flexibilität aufgreifen, aber gleichzeitig auch anerkennen, dass Burnout und Mehrbelastung nach der anfänglichen Home-Office-Euphorie zugenommen haben.

Dies ist kein leichtes Unterfangen, denn einerseits gibt es Beschäftigte, die Flexibilität einfordern und Unternehmen, die sehr bedacht mit dem Schutz der Arbeitsrechte umgehen, andererseits gibt es die andere Seite: Sanktionen für Beschäftigte, die pünktlich Schluss machen, Selbstausbeute und mentale Belastung.

Die Aufgabe des Gesetzgebers ist es nicht, die Positivbeispiele zu maßregeln, sondern einen Rahmen für diejenigen zu setzen, die als Beschäftigte in einer schwachen Position sind. Das bedeutet, dass in der Praxis einerseits die Möglichkeit gegeben sein muss, flexibler zu arbeiten, wenn Arbeitnehmer/innen dies im Zuge ihrer Work-Life-Balance selbst wünschen. Andererseits dürfen politische Akteure nicht die Augen davor verschließen, dass es auch faule Äpfel unter den Arbeitgeber/innen gibt, die die Mitarbeiterfürsorge nicht ernst nehmen.

Wären New-Work-Prinzipien der Wertschätzung und des Selbstmanagements bereits in der Breite angekommen, wäre die Diskussion nicht nötig. Solange jedoch Burnout-Zahlen weiter steigen und Beschäftigte durch Home-Office eine Mehrbelastung empfinden, muss der Gesetzgeber ein Auge auf das Thema haben. Am Ende muss aber nicht unbedingt ein Gesetz stehen – das irische Beispiel zeigt, dass eine Verordnung in Absprache mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden realistischer sein kann.

Alice Greschkow (Bild: Promo)

Alice Greschkow (Bild: Promo)

Alice Greschkow ist Politikwissenschaftlerin mit Leidenschaft für New Work. Sie lebt und arbeitet seit 2015 in Berlin und verbindet beruflich politische und wirtschaftliche Themen.

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