Unsere Kalender sind voll, die Köpfe leer: Markus Albers erklärt, warum das Versprechen von New Work nicht eingelöst wurde – und was wir jetzt brauchen, um unsere Arbeit zurückzuerobern. Ein Gespräch über Erschöpfung, Prozesse und eine neue Vision für unsere Arbeit.

Dein jüngstes Buch „Die Optimierungslüge“ ist frisch erschienen. Es trägt den Untertitel „Warum wir keine Zeit mehr haben, unsere Arbeit zu machen.“ Warum dieses Buch zu dieser Zeit?
Unsere Arbeitswelt wird derzeit von zwei Phänomenen auf den Kopf gestellt – eines eindeutig positiv, das andere potenziell desaströs. Da ist einmal das im Mainstream angekommene hybride Arbeiten: Wissensarbeitende werden nie wieder jeden Tag denselben Weg ins immer selbe Büro nehmen, um acht Stunden am immer selben Schreibtisch zu verbringen. Auch in Dienstleistungs- und Produktionsjobs nimmt die zeitliche und räumliche Flexibilisierung zu. Die meisten Menschen finden das gut.

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Doch damit einher geht eine Kultur der maximalen Arbeitsverdichtung, der permanenten Ablenkung und der ständigen Erreichbarkeit: Die digitale Kollaboration hat massiv zugenommen. Unsere Kalender sind von morgens bis abends voll mit Calls und Meetings. Wir sind auch nach Feierabend und im Urlaub für die Arbeit da. Konzentration oder gar Kontemplation werden zunehmend unmöglich.

Was war der Anstoß, es genau jetzt zu schreiben?
Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit diesen Themen. In meinem Buch „Morgen komm ich später rein“ plädierte ich für eine zeitlich und räumlich flexible Arbeitswelt, in der wir nicht mehr jeden Tag ins Büro gehen müssen. Das war im Jahr 2008, also lange, bevor diese Entwicklungen in der Breite der Gesellschaft ankamen. Danach fragte ich in „Meconomy“, ob in dieser flüssigeren Arbeitswelt ohne tägliche 9-to-5-Routinen die Idee der Festanstellung an sich altmodisch ist und wie wir es schaffen, stattdessen nach unseren eigenen Regeln und nach unseren individuellen Bedürfnissen zu arbeiten.

Diese positiven Utopien sind so nicht eingetreten. 2018 beschrieb ich in „Digitale Erschöpfung“, wie die zunehmend mobile und flexible Arbeitswelt uns – anders als erhofft – nicht produktiver, kreativer und glücklicher macht, sondern uns statt an den Schreibtisch nun an die Bildschirme kettet. Und warum statt zusätzlicher Freiheitsgrade die Arbeit noch in den letzten Lebensbereich einsickert.

Dieses Thema hat sich in den letzten Jahren durch die massive Verbreitung hybrider Arbeitsmodelle massiv verstärkt – und betrifft nun Wissensarbeitende in nahezu allen Branchen. Ich behaupte: Wenn wir als Gesellschaft dieses Thema nicht in den Griff bekommen, finden wir uns schon bald in einer Dystopie wieder. In einer von Tools und Prozessen dominierten Arbeitswelt des „Always on“, die so keiner wollte – und aus der wir uns aber nicht mehr befreien können.

Was ist denn das große Problem in unserer Zusammenarbeit?
Wissensarbeitende verbringen inzwischen fast 60 Prozent ihrer Zeit mit Kommunikationswerkzeugen, aber nur 40 Prozent mit Kreationssoftware. Die Zahl der Meetings hat im Vergleich zur Zeit vor der Corona-Pandemie um das 2,5-fache zugenommen. Eine Mehrheit der Arbeitnehmenden hat gar nicht mehr genug Zeit und Energie, um ihre Arbeit zu erledigen – und findet es zunehmend schwer, innovativ zu sein oder strategisch zu denken. Auch Führungskräfte spüren bereits diese Auswirkungen und geben an, dass der Mangel an Innovation oder bahnbrechenden Ideen in ihren Teams ein Problem darstellt.

Kurz: Wir organisieren und kommunizieren immer mehr. Aber wir erschaffen immer weniger. Wir benutzen die modernsten Tools, aber die Menge und Qualität von Innovation geht weltweit messbar zurück. Gleichzeitig wird das New-Work-Versprechen, durch Technologie und Selbstorganisation effizienter und dadurch weniger zu arbeiten, nicht eingelöst. Arbeit – bzw. eigentlich Beschäftigtsein – wird nicht nur immer enger getaktet, sondern auch einfach: Immer mehr.

Woran liegt das?
Heute ist alle Wissensarbeit der erbarmungslosen Monotonie des Digitalen unterworfen. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, kaum noch Höhepunkt und Antiklimax. Der nächste Tag bringt immer das nächste Stand-up, die nächsten Assets. Man könnte das als „galoppierenden Prozessionismus“ beschreiben, und er wirkt alternativlos auf uns. 

…galoppierender Prozessionismus” – da steckt das Wort “Prozesse” drin. Was genau kritisierst Du damit?
Es geht mir nicht darum, ob wir Prozesse brauchen oder nicht. Sondern darum, welche Art von Prozessen für uns die richtigen sind. Und wer diese definiert. Dabei geht es nicht zuletzt um die Machtfrage. Die blinde Akzeptanz vermeintlich feststehender Strukturen durch Technologieunternehmen wie Microsoft oder Atlassian geben die Art vor, wie wir unsere Gedanken strukturieren, darstellen, austauschen. Damit begrenzen sie mindestens den Rahmen des Denkbaren. Vielleicht auch, mehr als wir uns eingestehen wollen: den Inhalt unseres Denkens.

Was können wir tun?
Es braucht ein anderes, ein verführerisches Narrativ davon, wie erfolgreiche Arbeit aussehen kann. Dieses Dilemma führt laut dem US-amerikanischen Forscher Cal Newport zu einer Great Exhaustion von Wissensarbeitenden – das ist ein Begriff, der das Thema meines letzten Buches “Digitale Erschöpfung” spiegelt: Great Exhaustion meint “Die große Erschöpfung” der Arbeitenden, die sich durch die Büros in vielen, vielen Branchen zieht.

Als Lösung empfiehlt Newport weniger Kollaboration und mehr konzentrierte Arbeit. Das ist richtig, das habe ich auch schon oft beschrieben. Aber es greift zu kurz. Ich bin überzeugt: Wir brauchen eine neue Grammatik des Schaffens. Wir müssen die Definition zurückerobern, was gelingende Arbeit ausmacht. Das versuche ich in meinem Buch.

Wie sollte diese neue Grammatik des Schaffens aussehen?
Um die Deutungshoheit über die Prozesse zurückzugewinnen, braucht es mehr als eine theoretische Absicht. Ganz praktisch schlägt der Arbeitsphilosoph Hans Rusinek „mehr hoch qualifizierte Gig Jobs statt Big Jobs“ vor. Seine Vorstellung einer den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsenen Arbeitswelt ist „ein verflüssigter Markt der Fähigkeiten statt rigide festangestellter Positionen, in denen Human Capital zu sehr gebunden ist.“

In dieser Utopie, in der „eigentlich alle Selbstständige sind“, gäbe es mehr Selbstwirksamkeit, weil der oder die Einzelne konkret jemandem helfen und ein Problem lösen könnte, statt sich in White-Collar-Festungen im goldenen Käfig selbst gefangen zu halten. Professionelle Sportteams oder Filmproduktionen funktionieren so: Indem sich qualifizierte Free Agents für eine zeitlang verpflichten, miteinander Höchstleistung zu erbringen, klare Ziele zu erreichen – und danach wieder ihrer Wege gehen.

Dieses Modell wäre im ersten Schritt vor allem für hochqualifizierte Wissensarbeitende vorstellbar – später, mit fortschreitendem technologischen Fortschritt (vor allem KI), auch für andere Jobs. Eine solche neue Arbeitswelt bräuchte drei Zutaten: Erstens ein fluides Prinzip der Zusammenarbeit von Organisationen und Individuen. Zweitens eine Orientierung am Plattformmodell, in dem Organisationen die Voraussetzungen erfolgreichen Arbeitens schaffen, aber nicht alle Regeln und Prozesse vorgeben. Und drittens das Anerkennen, dass es individuelle Talente und menschliche Eigenarten sind, die Innovation voranbringen – unterstützt, aber nicht ersetzt von einer zunehmenden Automatisierung durch KI. Dieses System – ich nenne es „Applied Adhocracy“ – führe ich im Buch detaillierter aus.

Du bist für mich eine wichtige Stimme für New Work. Unser Diskurs wirkt aber immer noch so vor-pandemisch. Erleben wir gerade das Ende von New Work?
Zumindest das eines naiven, blauäugigen Verständnisses von New Work. Ich beschreibe mit „Applied Adhocracy“ ein hoffentlich realistisches und zeitgemäßeres Modell.

Was bedeutet das für die einzelnen Arbeitenden?
Der oder die Einzelne kann gar nicht viel tun. Digital Detox, No-E-Mail-Fridays und Deep-Work-Phasen im Kalender werden schnell wieder von Tools, Calls und Prozessen aufgefressen. Wir müssen das Thema grundsätzlicher angehen – auf Organisationsebene, gesellschaftlich und vor allem technologisch.

Und wie kann die Umsetzung aussehen?
In seinem Essay „The Nature of the Firm“ stellte der Ökonom Ronald Coase schon 1937 eine scheinbar naive Frage: Warum gibt es überhaupt Unternehmen? Warum entscheiden sich Einzelpersonen dafür, diese zu gründen, anstatt bilateral durch Verträge auf einem Markt zu handeln?

Der Grund sind die so genannten Transaktionskosten, die man aufwenden muss, um am Markt teilzunehmen: Informationsbeschaffung, Vertragsverhandlungen, Abwicklung und Kontrolle von Transaktionen, Informationsaustausch zwischen Mitarbeitenden…  All das kostet Geld. Laut Coarse – und für diese Erkenntnis erhielt er den Nobelpreis – entstehen Unternehmen darum, weil interne Prozesse solche Kosten senken oder ganz vermeiden. Lange Zeit stimmte diese Logik.

Jetzt nicht mehr?
Durch die Digitalisierung sanken in den vergangenen Jahrzehnten die Transaktionskosten: Wenn Güter und Informationen digital ausgetauscht werden können, braucht es keinen Aktenumlauf mehr. Netzwerke aus Freelancern organisieren sich mit Google Docs und Outlook. Thomas Ramge und Holm Friebe behandelten dieses Phänomen in ihrem Buch „Marke Eigenbau“.

Ich gehe einen Schritt weiter und behaupte: Durch die von mir beschriebenen Effekte hat sich die Coarsesche Gleichung in vielen Unternehmen mittlerweile sogar umgedreht: Digitalisierung führt zu unnützer Bürokratisierung, zu weniger Produktivität und mehr work about work. Die Transaktionskosten sind heute innerhalb der Organisation paradoxerweise oft höher als außerhalb. In der Folge wird es ökonomisch sinnvoller, Dienstleistungen oder Arbeitsschritte frei auf dem Markt einzukaufen oder in Netzwerken zu koordinieren statt intern bereitzustellen.

Jeder kennt das aus dem eigenen Umfeld: Bei anspruchsvollen und zeitkritischen Projekten bucht man lieber fix eine/n Freelancer/in oder ein schlankes Start-up als Subunternehmer, weil der Job dann unkomplizierter, schneller und oft sogar besser erledigt wird, als wenn man auf umständliche, langsame und teure interne Ressourcen zurückgreift.

Das heißt: Was muss sich ändern?
Erfolgreiche Organisationen müssen mit einem vielfältigen Verständnis von Arbeitsweisen und nach außen durchlässigen Netzwerk umgehen können, statt auf starren internen Prozessen zu beharren. Vorgesetzte müssen Projekte mit den besten Köpfen besetzen – egal ob intern oder extern – und müssen diese Teams dann frei und asynchron kollaborieren lassen, statt sie in Calls und Meetings zu zwingen. Dass es mit KI nun eine Technologie gibt, die verspricht, solche vielgestaltigen, individuellen und komplexen Workflows effizient und unsichtbar zu koordinieren, macht diese Vision realistisch.

Ich glaube, dass so das Versprechen von New Work doch noch Realität werden kann: Uns kreativer, produktiver und glücklicher zu machen, indem wir uns auf jene Teile der Arbeit konzentrieren, die wirklich wertschöpfend sind – und das zu jenen Zeiten, an jenen Orten und mit jenen Menschen, die für jeden und jede Einzelne am besten funktionieren.

Markus Albers (Bild Patrick Desbrosses)

Markus Albers (Bild Patrick Desbrosses)

Markus Albers: Ich lebe als Advisor, Autor und Unternehmer in Berlin. Wer wissen möchte, worüber ich gerade nachdenke, abonniert meinen Newsletter „The Tough Question“, in dem ich mich mit den Schnitt­stellen von Technologie, Gesellschaft und Kommunikation beschäftige. Ich habe die Consultancy OPAK gegründet, die sich auf Kommunikationskonzepte und maßgeschneiderte Narrative für Personen und Organisationen spezialisiert. Als Autor und Redner beschäftige ich mich mit der Veränderung der Arbeitswelt. In meinem neuen Buch „Die Optimierungslüge“ kritisiere ich, das Tools und Prozesse einen Großteil unseres Arbeitstages übernommen haben, was uns weniger produktiv, weniger kreativ und unglücklich macht. Meine früheren Sachbücher „Morgen komm ich später rein“, „Meconomy“, „Re­thinking Luxury“ und „Digitale Erschöpfung“ wurden vielfach besprochen und in fünf Sprachen übersetzt.

Das Interview führte Inga Höltmann.

 

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